emotionaler Brief über die Ereignisse in München. Berichtet, dass
er zu Raffs Schwager, Dr. Merian, nach Basel gehen will, um dort als Musiker zu
wirken. Er will Frau und Kinder später nachholen. Will trotz Risiko nochmals nach
München um die Wohnung zu zügeln. Berichtet, dass er in Basel Raff's G dur Trio [Opus
112] gespielt habe. Berichtet noch über eine Neuauflage von "Schuberths
Handbüchlein". Bedankt sich für die gute Nachricht von Liszts Psalm, berichtet über
seine Komposition "Des Sängers Fluch" und ist peinlich berührt über die Widmung des
Opus 127 "Ein feste Burg". Lobt Raffs Gewissenhaftigkeit bezüglich "Cäsar-Partitur"
und berichtet über weitere musikalische Pläne (z.B. Meistersinger bearbeiten).
Verehrter freund!
Das war gar kein Brief mehr – das war eine wirkliche Wohl-That. Herzlichen Dank für diesen unschätzbaren Beweis von Freundschaft!
Aber – nicht an Dir, noch auch an mir liegt es – Trost, Stärkung kann mir auch dieser Brief nicht geben. Du hast keine Ahnung von Dem, was vorgegangen: kaum mündlich wäre ich im Stande, Dir das Gräuliche, Unheimliche, was mich getroffen, verständlich zu machen, geschweige brieflich. Behalten wir das einer andren Zeit vor – wir werden uns ja doch einmal wiedersehen. Einstweilen hatten Deine freundlichen Mittheilungen auch ihre positiv sehr betrübende Seite für mich: diejenigen über Dein eigenes Schicksal. Bei Gott, ich kann mit leiden, ich habe darin eine nur allzugroße Virtuosität. äWie frech lügt doch das Sprichwort: solamen miseris u. s. w.! Alle Bewunderung, allen Respekt vor Deiner Faßung, Deiner Unerschütterlichkeit (nun Deine verehrte Frau kann darin auch etwas leisten!) und Deinem allerdings sehr berechtigten Selbstvertrauen – allein mein wahrhaft tiefes Mitgefühl empfängt hiervon noch keine Katharsis! Diese Zertrümmerung aller Ergebniße Deiner rastlosen, wirklich aszetischen Thätigkeit! Es ist abscheulich. Naßau ist nun preussisch; vermutlich hat sich nun Deine Frau umsonst abgequält, umsonst mit Dir gespart, entsagt.... Bei Gott, Du kannst mir nichts Angenehmeres erweisen als einmal eine Mittheilung, daß es weniger schlimm mit Euch steht, als ich jetzt fürchten muß.
Was mich anlangt, soå habe ich neulich – infolge meines Schreibens an Dich – einen recht glücklichen Einfall gehabt. Ich habe Deinen Schwager in Basel besucht. Dr. Merian und seine liebenswürdige Frau haben mich so unendlich freundlich aufgenommen, daß die Erquickung noch nachwirkt. Sie wollen mich in meinem neuen Projekt mit allen Kräften unterstützen, haben es zum Theil schon gethan: Dieses neue Projekt, das verständigste, zugleich, wie mich allerhand andere Explorationen lehren, einzig mögliche für jetzt, ist folgendes:
Übersiedlung nach Basel, wo ich vorläufig nächsten Winter mich als Solo- und Triospieler am städtischen Musikleben betheiligen werde und mir eine anständige Klavierlehrerpraxis zu erwerben hoffe. Glückt das Experiment, so laße ich Frau und Kinder nachkommen, beziehe dann vielleicht die gegenwärtige Wohnung des Direktors der Feuerversicherungsgesellschaft, der sie gegen seine Amtswohnung verlaßen wird und – da Wagner in Luzern bleibt, da wir somit ebenso wohl in seiner Nähe, als direkt an der deutschen Gränze hausen werden, so wird Alles „sehr gut“ sein.
Alles in Allem erwogen ist diess der vernünftigste Ausweg. Kostete es jedoch Zeit und Nachdenken, diesen Plan zu fassen, so stösst seine Ausführung noch auf bedeutende Schwierigkeiten. Es ist sehr die Frage, ob ich meine Frau den kommenden Winter über ohne Gefahr ä(buchstäblich zu nehmen: Gefahr an Leben und Eigenthum)å allein in München zurücklaßen kann; denn zuvörderst muß ich es mit Basel als Strohwittwer versuchen. Um hierüber ins Klare zu kommen, riskire ich in den ersten Septembertagen – trotz vielseitiger freundschaftlicher Warnungen – die Rückreise nach München. Zudem muß auf Lösung des Miethcontrakts, Verkauf oder Transport aller unsrer Mobilien Bedacht genommen werden: die bisherige Flüchtlingsrolle – aus Mißverständniß – läßt sich bei der relativen Festgenageltheit an München – nicht weiter fortsetzen. So stehen die Dinge: München als weiterer Aufenthaltsort ist für uns rein unmöglich geworden.
Was sagst und folgerst Du hieraus: W. hat das ihm geschenkte Haus in der Brienner Straße dem hohen Geber zurückgeliefert: die Rücklieferung ist acceptirt worden. Entschuldige die abgebrochene Räthselsprache: ich kann diesen Zwang nicht – vorläufig noch nicht – abschütteln.
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Heute vor 8 Tagen spielten wir bei Dr. Merian Dein G dur Trio, das uns in die prächtigste Stimmung versetzte. Im Interesse der „Exequenten“ (wie die Wiener sagen) wie der „auscultirenden“ Musikfreunde spielten wir jeden Satz gleich zweimal. „Probatum erat.“ Vielleicht führe ich diese Neuerung noch ins öffentliche Musikleben ein
äWas sind das für glückliche und verdient glücklich Menschen. Dein Schwager durch u. durch ein Gentleman, ein hochintelligenter Kopf: Deine Schwägerin geistesrege, liebenswürdig wie immer, ich möchte sagen, verjüngt, wie ich sie früher nie gekannt, reizende liebe Kinder. Ich hoffe auf Ansteckung von solch erfreulichem Bilde. Und Eines nehme ich mir vor: Deine Schwägerin soll durch mich wieder zu häufigerem Musiziren verführt werden. Sie setzt ihr selten schönes Talent ein wenig unter den Scheffel, wie mich dünken will. Vielleicht irre ich mich: die Promenade hat sie ganz prächtig mit mir vierhändig gespielt.å
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Ja, zum Teufel mit Orchesterdirection, Kapellenorganisation, Conservatoriumsaedifikation u. s. w. Ich will alle großen Rosinen aus dem Kopfe reissen, mich bescheiden, begränzen und sehen ob ich im Kleinen nicht noch was Achtbares, Nützliches für die Kunst leisten kann. Was gilt der Rahmen? Das Wie der Verwendung seiner Fähigkeiten bleibt für den Menschen ja doch Nebensache.
Freilich um Einiges in mir ists Schade. Aber ich will das Bedauern darüber Anderen überlaßen, z. b. der neuen Auflage von Schuberths Handbüchlein. Einstweilen äbin ich froh, nicht von der Blasirtheit und der Deutschlandmüdigkeit aber von der sehr erklärlichen tiefen Prostration ein klein wenig wieder genesen zu sein, in der ich seit Monaten unterzugehen fürchtete. Deine freundlichen Schmeichelworte haben zur Ermannung nicht wenig beigetragen. Nochmals herzlichen Dank dafür.å
„Respiro“, so hoffe ich. Wie die richtige Formulirung eines Problems schon die halbe Lösung desselben genannt werden kann, so ist die deutliche Klarlegung einer schändlichen Situation schon der halbe Weg zur Befreiung daraus. Allerdings das Schändlichste im gegebenen Falle war gerade die furchtbare Confusion, die Schwierigkeit, die Mitleidenden zur richtigen Erkenntniß, d. h. pessimistisch ruhigen Desperation zu bringen. Ich war seit Februar 1865 nicht im Mindesten im Zweifel über die „Oberfaulheit“ der Dinge. Freilich bis zu welchem Grade sich dieselbe offenbaren würde, davon ließ ich mir nichts träumen, nichts „alpdrücken“. Verzeih, ich gerathe wieder ins Orakeln und jene „Rücksichten“ die ich seit je zum Teufel gewünscht, vermag ich doch heute nicht zum Teufel schicken! Also – später.
äIch lese Deinen Brief nochmals durch, zu sehen, was ich Dir speziell zu beantworten habe und gerathe dabei wieder in eine Rührung, die Du nicht beabsichtigt hast, die zu bekennen ich mich aber nicht schäme.
Wien? Noch unmöglicher als Italien, wo Florenz nicht ohne Chancen wäre. Amerika? Willst Du mit Schuberth sprechen, vielleicht nähme ich später eine derartige Aussicht an. Jetzt physisch und nervös zu sehr heruntergekommen. Basel bleibt immer noch das beste – Fegefeuer. å
Dank für die gute Nachricht über Liszts Psalm. Meine Frau wirds ihm dieser Tage berichten. „Sängers Fluch“ überlaße nur seinem unbekannten Verleger. Zudem hat er schon mehr Aufführungen erlebt, als Zopff’s Mahometouvertüre, die allerdings selbst für Roulettespieler zu schlecht ist.
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äFrl. Alexandra (?) v. Miloschewitsch war während einem Jahre meine Schülerin in München und hat mir sehr viel Freude gemacht. Vielleicht meine liebste, intelligenteste gehorsamste Schülerin überhaupt. An spezifisch musikalischer Begabung, ditto an technischer Ausbildung steht sie natürlich hinter der Topp u. A. zurück; persönlich war sie mir viel lieber. Ich habe sie sehr ungern verloren. Ihr Vater ist pensionirter General, lebt meistens in Moskau auf den Gütern der Familie, besucht letztere zuweilen auf Monate wie es in München der Fall war. Mutter sehr liebenswürdig und charmant, Schwiegersohn, Fürst Dolgorouki, Schwager meiner Schülerin sehr gescheudter und gebildeter Mensch.
Die Leute lebten ungeheuer zurückgezogen, unter sich selbst sehr idyllisch und vernünftig, machten uns einen für München sehr oasigen Eindruck. Dennoch verkehrten wir nicht gerade intim mit ihnen: ich hegte und hege noch den allerdings nicht positiv beweisbaren Argwohn, daß sie einem spionistisch politischen Getriebe in russ. Diensten nicht ganz fern geblieben sind, wenigstens Fürst D. nicht. Doch ists nur ein Argwohn; von Haus sind sie ungeheuer reich und Fürst D. treibt mit Fanatismus Chemie und zwar nicht als Dilettant. So – wäre diese Commission erledigt. Mich würde es interessiren, von Dir persönliche Eindrücke über die Leute zu empfangen.å
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Ich bin höchst erfreut über Dein Geschenk, das Du mir zugedacht. Willst Du den Freiherrntitel auf der Fronte nicht ausmerzen? Er genirt mich immer ganz abscheulich. Ich denke an unter die vornehmen Dilettanten gezählt zu werden, bei denen der Baron den Musiker oder umgekehrt zu suppliren nöthig hat. Ich bin ungeheuer begierig auf das Werk, ganz abgesehen von dem Experiment, ob mir diese Tonschlacht „Tapferkeitsgedanken einfeuern“ wird, oder nicht.
Du bist doch unglaublich gewissenhaft im Gedenken aller Angelegenheiten Deiner Freunde! Die Cäsarpartitur (Stimmen ausgeschrieben) liegt stichfertig in München da. Mir kommts vor, als habe ich noch daraus gemacht, was zu machen war. Ich wollte Dich nicht wiederum belästigen – ich betrachte dergl. bei einem Manne wie Du, schon als hl. Geist-Sünde, darum liess ich nichts verlauten. äAndrerseits wußte ich nicht, wie weit mich auf Dich berufen, wie überhaupt mit dem Manne reden. So z. b. weiss ich auch nicht, zu welchen Bedingungen ihm die zweihändige Meistersingerouvertüre und das kleine Fragment aus dem ersten Akte anbieten.
Wenn Du einmal mit ihm in deinen eignen Angelegenheiten persönlich zusammentriffst, bitte ich Dich, eine Art Basis für etwaige direkte Verständigung zwischen ihm und mir vorzubereiten. å In Basel will ich Allerlei – für Geld – arbeiten, will ihm Arrangements u. drgl. wenn er sie anständig honorirt, fabriziren so z-b. ein 8händiges Arrangement der Meistersinger-Ouvertüre. Was den Klavierauszug der Oper anlangt, so fürchte ich mich erst dann dran machen zu können, wenn mir’s äusserlich etwas flott geht. Denn diese Arbeit ist noch schwerer als der Tristan (fürs musikalische Verständniß durchaus nicht sondern im Gegentheil) – die Ausklügelei und Herumbrüterei würde mich stark absorbiren und ich glaubte nicht, von dieser Arbeit selbst bei exclusiver Beschäftigung damit, während der Arbeitszeit z. b. existiren zu können, d. h. von deren Ertrage.
In einer neulichen melancholischen Revue rétrospective über alles Verfehlte, Alberne, Verschrobene in meinem Lebensgange, fiel mir das Wort eines „griechischen“ Lehrers aus der Schule ein. Der alte „Rülps“ war sehr langweilig u. gründlich, aber gutmüthig. Als ich ein paar Mal während der grammatikalischen Auslegungen der Odyssee und unter ostensibler Theilnahme an seinen Erörterungen zugleicher Zeit Kubikwurzeln auszog und mich für die Lection in der Geographie vorzubereiten suchte, warnte er mich vor meiner gefährlichen Anlage zu dem Laster der „Polypragmasie“, wie er’s nannte. Der alte Kerl hat gar richtig in mich hineingeschaut. Aber das Schicksal hat mitgeholfen mich diesem Laster zu ergeben und sehr häufig gerade dann, wenn ich den weisen Vorsatz gefaßt hatte, dagegen aus allen Kräften anzukämpfen.
Nun Du meinst es sei mit mir überhaupt noch nicht „zu spät.“ Wollen sehen.
Erhalte mir Deine Freundschaft, laß Dich für den letzten Beweis derselben durch Deinen theuren Brief umarmen! Er war und ist mir eine Herzensstärkung, wie ich sie jetzt so recht bedurfte!
äViele herzliche Grüsse an die Deinigen. Möge sich jede weitere Besorgniß in Nebel auflösen und das eingetroffene Übel verringern!
In treuer Anhänglichkeit
Dein ganz ergebener
Landhaus Triebschen HvBülow.
bei Luzern, 26 Aug. 1866.å