Absender: Joachim  Raff (C00695)
Erstellungsort: [Weimar]
Empfänger: Doris  Raff (C00693)
Datierung: Quelle undatiert
[undatiert] bis [undatiert] (Quelle)
5. Juli 1856 bis 7. Juli 1856 (ermittelt)
Standort: Bayerische Staatsbibliothek (München)
Signatur: Raffiana II
Umfang: 11 Seiten
Material: Papier
Schreibmittel: schwarze Tinte
Incipit: Mein liebes Herz!
Es ist in der That merkwürdig mit welcher Schnelligkeit

Habe gleich nach Erhalt die Sendung zu Wilhelm Genast] an Toni [Antonie Genast] erledigt. Gedanken über das Leiden und seine Schuld an der Situation. 6 1/2 Uhr: Habe die vorigen Gedankengänge auch bei der mechanischen Klavierauszugsarbeit [Liszts Graner Messe] fortgeführt. Voriges Jahr war es etwas später als diese Zeit, als R. die Abhanldung fürs Jahrbuch ["Die Stellung der Deutschen in der Geschichte der Musik] angefangen habe. Was habe R. diese eingetragen? NIchts. Bald darauf habe er die Partitur zu "Bernhard" [WoO 17] geschrieben, die R. ihres Willens Freude bereitet habe, sonst habe sie ihm aber nichts eingetragen. Nachher schrieb R. die "Liebesfee" op. 67. Habe bis jetzt noch nichts davon. Sodann die Symphonie [WoO 18] und den Psalm [WoO 8], die ebenfalls noch nichts eingebracht haben. Von kleineren Sachen ganz zu schweigen. Setze sich abermals hin, um eine grosse Partitur zu verfassen, von der R. noch keinen Vorteil absehen könne. NIcht einmal diese, die die Pflicht hätten, R.s Fleiss und Talent Rechnung zu tragen. Verlustängste. 6.7.: Verliess am Vortag die Stube wegen den düsteren Gedanken und geriet Dittenberger [?] in die Hände. Seine Frau habe diesem aus Wiesbaden geschrieben. Habe erzählt, dass sich Vater [Eduard Genast] ein Klavier gemietet habe. Als R. von [Robert] Griepenkerl nachhause kam, habe er [Richard] Pohl und Wasielewski getroffen, letzterer warte auf den Zug nach Wiesbaden. [Eugen von] Soupper sei nun wohl schon bei der E. Habe diesen gestern noch im russischen Hofe mit Liszt und Griepenkerl. Letzterer langweile sich sehr. Es wurde heftig gestritten, da Griepenkerl oft anzüglich werde. Habe LIszt gefragt, warum man ihn zu Kirchenkomponisten "schwindle". Liszt sei auch nicht übel losgezogen und R. sei die Rolle eines Vermittlers zugefallen. Nach dem Streit habe Griepenkerl mit [Alexander] Ritter und Waldbrühl ein Hazardspiel angefangen. Liszt habe R. zu etlichen Touren 66 engagiert, das dieser vor 5 1/2 Jahren von R. gelernt habe und ihn bei dieser Gelegenheit über das Märchen ausgefragt, das R. komponieren wolle [Dornröschen, WoO 19]. Habe gemerkt, dass L. die Sache sehr unangenehm sei. Teils, weil R. zu dieser Zeit nicht für ihn arbeiten könne, teils weil R. ihm zu früh über den Kopf wachse. Habe versucht, R. von der Sache abzubringen, indem er auf das fertigzustellende Trio [WoO 9?] hinwies. Fragte auch, warum R. den Samson [WoO 20] nicht fertig mache. Es wäre L. recht, wenn R. 8 Monate investieren würde und er die Aufführung hintertreiben könnte. Was den Samson anbelange, könnte L. sich eine jetzige Aufführung wünschen. Liszt könne einsehen, dass R. sich vor allem wegen dem "Samson" mit symphonischen und Vokalwerken befasse, weil L. ihn vor zwei Jahren an der Vollendung des Samson gehindert habe. L. könne selbst keine dramatischen Werke im Wagner'schen Stile schreiben. In den nächsten Jahren sei kein Werk da, das die Wagner'sche Tradtion fortführe. Das Korpus der Wagner'schen Propaganda werde so ziemlich verhungern, wenn ihm nicht ferne Nahrung zugeführt werde. Zumal vor 1860 keine Aufführung der NIbelungen [Wagners "Ring des Nibelungen"] zu denken sei. Für die Partei wäre es also gut, wenn der Samson fertig wäre. R. habe mehreren Leuten gesagt, dass er die Oper nicht vollendet habe, weil L. sie nicht aufführen wollte. Das dürfte L. gehört haben. Will nach dem Dornröschen sein Trio fertig machen, damit es im Winter an den Quartettsoiréen gespielt werden könne. Anschliessend seine zweite Symphonie [!%], was jetzt unmöglich war. Gegen Februar hin wolle er den "Samson" wieder aufnehmen und der hiesigen Intendanz im September 1856 [nicht 1857?] einreichen. Wenn die Symphoniekonzerte doch noch zu Stande kommen, könne die 2. Symphonie dort aufgeführt werden. Wenn im Jahreswechsel 1856/57 ein grösseres Werk von R. aufgeführt werde, müsse R. keine Konzertreisen machen, sondern könne an einen Posten gelangen. In dieser Stellung müsste R. einige Quatuors op. 90 und das Buch zum "Abschalom" ["Absalom"] fertigstellen, damit diese Oper bis zur Ankunft der Nibelungen fertig sei und auf deren Höhe sich befinde, von wo aus R. "die Opposition gegen Wagner, welche einen Theil meiner Lebensaufgabe ausmacht, mit Wirksamkeit zu verfolgen" vermöchte. Die Nibelungen seien auf "jene Spitze gerückt, von welcher aus die aesthetische Welt nur noch die Wahl der Rückkehr oder vielmehr des Umschlags zum Gegentheil hat. Worin die Opposition gegen Wagner bestehen würde, wüsste die E. schon, wenn R. den zweiten Teil der "Wagnerfrage" geschrieben hätte. 5 Uhr: Endlich sei der Klavierauszug für Liszts Messe fertig. Liszt werde meinen, dass R. sich nun gleich den Prometheus vernehmen soll, womit R. mehrere Wochen hätte. Doch dieses Mal könne R. wirklich nicht, auf die Gefahr hin, dass es zwischen den Eltern der E. und R. zu einem Bruch kommen könnte. Die Mutter [Christine Genast] sage, R. solle in Frieden mit Liszt auseinanderkommen. Dies sei nur möglich, wenn sich R. aufgebe. Werde sich weigern, eine weitere Arbeit zu machen und es auf den Bruch ankommen lassen. Habe der E. erzählt, wie Liszt den Verpflichtungen R.s gegenüber nachkomme. Das "Dornröschen" [WoO 19] werde heute oder morgen fertig, müsse aber noch revidiert und abgeschrieben werden. So werde es R. erst nächste Woche erhalten können. Könne nicht vor Mitte des Monats daran zu komponieren kommen. Werde ohne Unterbrüche drei Monate dafür brauchen. Wisse nicht, wie er bis oktober damit fertig werden soll. Liszt sei gestern nach Dresden gefahren und komme morgen wieder zurück. Werde am Sonntag erfahren, wie es aussehe. Wilhelm [Genast] habe vor, so zu operieren, dass die Aufführung Beaulieu [Olivier von Beaulieu-Marconnay] und dem Grossherzog belieben werde. So könnte es gelingen, Liszt zu umgehen. Diesen Winter noch werde es ein Märchen geben, dessen Namen R. nicht weiss aus der Sammlung "Märchenwinter" von Andersen, Musik vom Kopenhagner [Johann Peter Emilius] Hartmann [wahrscheinlich "Klein Kristen"]. Werden wohl von anderen mittelmässigen Novitäten heimgesucht, da sich Liszt die Gunst verschiedener Kapellmeister erwerben müsse, um seine symphonischen Dichtungen unter die Leute zu bringen. Solche Novitäten seien: [Johann Friedrich] Kittls "Franzosen in Nizza" (Text von Richard Wagner, der verboten habe, sich auf dem Titel zu nennen). Gustav Schmidts neue Oper, denn er habe eine "Regina" und "Weiber von Weinsberg" liegen. Kapellmeister [Ferenc] Erkels "Hunyadi". Von diesen werde sich nichts auf dem Repertoire halten. Da R. seit dem letzten Sonntagstheater die Pohls nicht mehr besucht habe, so war dieser heute zu Besuch. Dieser habe richtig vermutet, dass R. etwas gegen ihn habe. Werde dessen Frau morgen besuchen, da sie nach Baden-Baden gehe. Martha gehe bis Heidelberg mit ihr, von dort aus nach Stuttgart. Wasielewski werde nach Dresden übersiedeln. Wolle schriftstellern und etwas aus Gerbert [?] arbeiten? Dabei könne der gute Mensch von den Quellen nicht einen Buchstaben lesen. Nimmt an, dass dieser für die Musikalische Enzyklopädie von Schladenbach ["Neues Universallexikon der Tonkunst"]. Emi [Emilie] habe wieder mit Rubinstein angebahnt. [Eugen von] Soupper werde ein saures Gesicht machen. Es habe R. nicht geärgert, dass LIszt bei den Eltern gegessen habe. Selig Cassel habe dieses Mal Nichts an die E. aufgetragen. 7.7.: Sei von Pohls zurückgekommen. Frau Pohl reise mit Martha nach Frankfurt. Wenn Emi [Emilie] oder Rubinstein oder sonst jemand hinfahren wolle, müsse die E. es ihnen mitteilen. [Richard] Pohl sei mit dem Verkauf seiner Theaterhausbücher nicht sehr zufrieden. Bis jetzt wurden erst 20 Exemplare abgesetzt. War auf der Erholung, wo Gille R. erzählt habe, dass der "Meister" zum Ehrenmitglied der Liedertafel ernennt worden sei. Das Diplom habe Göttling verabfasst. Habe eine ziemlich lange Konversation mit Emilie Schotte geführt. Beklage sich, dass Toni [Antonie Genast] ihr die versprochene Marx'sche Broschüre (über die in der Ostdeutschen Post ein langer und günstiger Artikel stehe) noch von Wiesbaden aus geschrieben habe. Monica sei auch auf der Erholung gewesen, doch R. habe sie nicht gesehen. Die Grossfürstin und die Grossherzogin sollen die Broschüre mit Entrüstung aus den Händen gelegt haben. Habe sich von Pohl die Sangallische [?] Broschüre geben lassen, um Tonis Lapsus wieder gutzumachen, da R. zu Wilhelm [Genast] gehen musste. Wilhelm sei noch nicht zuhause gewesen. Auguste sagte R., dass sie nicht geschrieben habe. Wilhelm las aus "Dornröschen" [WoO 19] vor. Den ersten Teil habe W. schon überarbeitet. Der Schluss sei trotz R.s schwierigen Vorschriften musikalisch gut gelungen. Wolle zwei verschiedene Chöre, einen [...] und einen religiösen Chor gleichzeitig vortragen lassen mit verschiedenen Melodien, so dass zwei Stücke von 2 Orchestern u 2 Chören gleichzeitig executiert werden. Weil das Werk des Interessanten sehr viel haben werde, so wollte R. einen schlagenden Effekt am Schluss. Schöll interessiere sich sehr für die Sache. Die dritte Abteilung, deren Erfindung ganz von R. stamme, habe Schöll besonders gefallen. Böhlau habe versucht, [Richard] Pohl dazu zu bringen, dass dieser nichts mehr über Musik schreibe. Wilhelm und Böhlau werden sich bald verschwägern, da sich Böhlaus Bruder mit augustes Schwester Louise verlobt habe. Darüber spreche man noch nicht öffentlich. Von ERnstchen habe R. keine Aufträge. [Robert] Griepenkerl werde im Herbst drei Vorlesungen zum Besten des Schiller- und Goethedenkmals geben "Über Fortschritt in der Kunstgeschichte". Ein Wiener den R. seit 10 Jahren nicht gesehen, Simon Löwy, begegnete R. heut. Herr von Schütz sei in Paris. Sah den Lieutnant Andung [?]. Das werde Toni interessieren. Eben vorhin kam [Oskar Schade. Der Brief werde in seiner Anwesenheit geschlossen. In Hinsicht auf Düsseldorf sei die E. besser unterrichtet als R. selbst. Werde Sorge tragen, dass dort etwas von R. im Winter aufgeführt werde.


Zitiervorschlag: Raff, Joachim: Brief an Doris Raff ([5. 7. 1856]); https://portal.raff-archiv.ch/A01718, abgerufen am 14. 9 2024.