Absender: Martin  Roeder (C00755)
Erstellungsort: Mailand
Empfänger: Joachim  Raff (C00695)
Datierung: 6. Juli 1874 (Quelle)
Standort: Bayerische Staatsbibliothek (München)
Signatur: Raffiana I, Roeder, Martin, Nr. 3
Umfang: 4 Seiten
Material: Papier
Schreibmittel: schwarze Tinte
Incipit: Hochverehrter Meister!
Erst heute komme ich dazu Ihnen meinen aufrichtigen Dank für Ihren überaus interessanten

Bedankt sich für die Ausführungen des E.s zu dessen «Lenore» -Symphonie. Berichtet über die Entstehung seines Artikels über das Werk für die Ricordi’sche Gazzetta musicale und lobt Gregorio Camisanis italienische Übersetzung der Bürger'schen «Lenore» , die jene aus dem Pungolo übertreffe. Möchte bei Giulio Ricordi erreichen, dass sein Artikel zum Leitartikel erklärt werde. Habe sich beim Vorstand der Società del quartetto für eine Aufführung des Werks eingesetzt. Hofft auf eine bessere Besetzung der Hornpartie als bei Brenner in Berlin. Berichtet von seinem Gesangverein. Habe «Im Kahn» in Aussicht genommen und möchte weitere Chor- und Kammermusik aufführen. Habe in einem aristokratischen Salon mit der «resp. Wirthin» alle Violinsonaten [op. 73, op. 78, op. 128, op. 129, op. 145] des E.s gespielt.

Milano d. 6. July 1874.

Via ai boschetti No. 6I.

Hochverehrter Meister!

Erst heute komme ich dazu Ihnen meinen aufrichtigsten Dank für Ihre so überaus interessanten u. liebevollen Zeilen zu sagen, – und selbst wenn man (– nach Ihrem Ausspruch –) ein noch so «mitschaffender» Künstler ist, so entgehen Einem doch bei einem solch’ weitverzweigten, ausgebreiteten und tiefphilosophisch durchdachten Werke, wie es eben Ihre «Leonore» ist, feine Züge, deren Nichtbeachtung dann um so schwerer auf den [dem?] lastet, welcher eine weitere Besprechung dieser Sinfonie in einem geachteten Fachblatte vornehmen will. Leider muß ich Ihnen sagen daß ich in meinem Vorhaben, wenigstens in der ursprünglichen Form u. Anlage desselben, gestört worden bin. Ich hatte nämlich vor, meine Besprechung mit Citaten aus dem Werke selbst, zu belegen, um somit einen, wenn auch nur annähernden Begriff von der prächtigen Fülle edler Melodik die in diesem Meisterwerk aufgeschichtet liegt, dem Leserkreis zu geben. Nun widerspricht es aber (– o wie herzlich dumm!) den Prinzipien der Ricordi’schen Musikzeitung, Notenbeispiele in ihren Spalten aufzunehmen, – daher kann nur das arme, das schwache Wort reden, und da ich mir alle mögliche Mühe gegeben habe den wunderbaren Eindruck den in mir das Ganze, und hier wiedrum so viel einzelne Details hervorgebracht, wiederzugeben ([...] a poco wenigstens) so kann ich hoffen daß dieser unverfälschte Abdruck meines großen Enthusiasmus auch bei den Italienern an die rechte Adresse gelangen wird. Allerdings kommt mir im letzten Satz der Zufall sehr günstig zu Statten, daß ich vor Kurzem eine wunderbare italienische Uebersetzung der Buerger’schen Leonore’, und zwar von Gregorio Camisani, einem der bedeutendsten Kenner Uebersezer der deutschen Sprache, zugeschickt bekam, aus welcher ich dann Citate nahm, um dem Lesepublikum die Sache möglichst-grausig plausibel zu machen. Die von Ihnen erwähnte Uebertragung der Leonore (Pungolo iii e. ct.) weicht trotz ihrer einzelnen Sprachschönheiten lange nicht an dieses wirklich wunderbare Meisterwerk Camisani’s heran. Ich habe schon viel über Camisani nach Deutschland berichtet, er hat eine andere Meisterübertragung von des «Sänger’s Fluch» geliefert, in der er das scheinbar unausführliche Experiment siegreich überwunden hat, eine italienische Nibelungenstrophe herzustellen, ein tollkühnes Wagniß, das ihm aber außerordentlich geglückt ist. Der Anfang ist folgendermaßen:

Sorgèa ne’ tempi antichi superbo già un castel Signoreggiante il piano, tra il glauco mar e il ciel, Dattorno un’olezzante ghirlanda d’erbe e fior Con entro d’acque vive l’iride, lo splendor! Wenn es Sie weiter interessiren sollte, und wenn Sie einmal einen Vergleich anstellen wollen zu welcher Virtuosität im Uebersezen es der Camisani gebracht hat, dann steht Ihnen das ganze Gedicht zur Verfügung. Doch verzeihen Sie mir daß ich Sie so lange mit Allotria hinhalte. Ich hoffe daß in der nächsten Woche die eine Hälfte des Artikel über die „Leonorensinfonie“ erscheinen wird, doch will ich es nicht bestimmt behaupten. Ich will denselben als articolo da fondo (Leitartikel) haben, und diese Rubrik ist stets bei H. Ricordi besetzt, selbst – (oder gerade dann erst recht) wenn es sich um die wichtigsten Sachen handelt. Ich werde nicht ermangeln Ihnen dann umgehend den Aufsaz zuzusenden, und würde Sie dann bitten mir unumwunden Ihre offene Meinung darüber auszusprechen. – Im Uebrigen habe ich bereits mit dem Vorstand der Società del quartetto, welche die große Ehre hatte Ihnen ein Ehrenmitgliedsdiplom einsenden zu können, – Rücksprache genommen, und hoffe bestimmt, daß diese Sinfonie im Winter hier zur Aufführung gelangen wird. Aber wenn die Herrn Veranstalter nicht für einen brillanten Hornisten sorgen, der das Eshornsolo im 2. Satz anständig blasen kann, und nicht so (– verzeihen Sie mir den unparlamentarischen Ausdruck –) hundemäßig[?] wie jener arme Stümper bei Brenner in Berlin, der kaum noch Lippenkraft genug zum Ansatz besaß, – dann geht Ihnen der ganze, so poesiereiche u. keusche zweite Satz zu Schanden. –

Für heute diene Ihnen von meiner eigenen Wirksamkeit zur Nachricht, daß es mir mit Aufbietung aller meiner physischen und moralischen Kräfte gelungen ist, hier den (allerdings jezt schon ganz anständigen –) Keim zu einem guten Gesangverein (– terra incognitißima im schönen Lande der Limonen) gelegt zu haben, in welchem vorläufig trotz friedlicher Vereinigung der verschiedensten nationalen Elemente (– im Basse stehen Franzosen u. Preussen, und singen sich zähnefletschend ihre gegenseitige Rache vor –) nur deutsch gesungen wird. Da ich mich verschiedener Gründe halber, bis jezt noch nicht an größere oratorische Werke, oder Cantaten heranmachen kann, suche ich kleinere Stücke heraus, und habe dabei auch für den Beginn der Wintersaison Ihr Quartett mit Clavier «Im Kahn» in Aussicht genommen. Im Falle Sie mehrers in diesem Genre geschrieben haben, würden Sie mich sehr verbinden, es mich gelegentlichst wissen zu laßen, da ich Alles was in meiner allerdings nicht starken Macht, steht, dazu beitragen will, Ihre hierorts garnicht oder wenig bekannten Chor- u. Kammermusik möglichst zu verbreiten. Falls es Sie interessirt, theile ich Ihnen mit daß ich hier in einem aristokratischen Salon mit der resp. Wirthin alle Ihre Violinsonaten [op. 73, op. 78, op. 128, op. 129, op. 145] zum Oefteren gespielt habe.

Nun leben Sie mir recht wohl, haben Sie nochmals besten Dank für Ihren lieben Brief und indem ich Ihnen gesunde u. geistige Frische bei Ihrer Rückkehr wünsche

bleibe mit vorzüglicher Hochachtung

Martino Roeder.


Zitiervorschlag: Roeder, Martin: Brief an Joachim Raff (6. 7. 1874); https://portal.raff-archiv.ch/A01175, abgerufen am 14. 9 2024.