Absender: Martin  Roeder (C00755)
Erstellungsort: Wiesbaden
Empfänger: Joachim  Raff (C00695)
Datierung: 5. September 1873 (Quelle)
Standort: Bayerische Staatsbibliothek (München)
Signatur: Raffiana I, Roeder, Martin, Nr. 1
Umfang: 4 Seiten
Material: Papier
Schreibmittel: schwarze Tinte
Incipit: Hochverehrter Meister!
Kaum dürften Sie sich noch meiner Wenigkeit erinnern

Ruft dem E. seinen Namen in Erinnerung. Habe vor drei Jahren warme Fürsprache vom E. empfangen. Berichtet von seinen Studien bei Friedrich Kiel und seinen Werken. Sei auf der Reise nach Italien und möchte den E. besuchen. Giulio Ricordi, für dessen «Gazzetta musicale» er seit mehreren Jahre als Mitarbeiter und Korrespondent wirke, habe ihm eine Korrepetitoren-Stelle am Vermetheater in Mailand vermittelt. Möchte in Italien sein Glück als dramatischer Komponist versuchen.

Hochverehrter Meister!

Kaum dürften Sie sich noch meiner Wenigkeit erinnern, welcher es nur durch Ihre warme Fürsprache und ein vorurtheilsloses Zeugniß möglich war, den strengen musikalischen Studien obzuliegen. Ich war vor circa 3 Jahr bei Ihnen, als ein unglücklicher Dilettant mit zerrissenem Herzen der mit sich u. der ganzen Welt nicht eins war, ich brachte Ihnen die Erzeugnisse meiner fruchtbaren aber durchaus zügellosen Muse (– ich saß eben ohne Sattel auf dem Pegasus –) und Sie, mit Ihrem einzigen Kennerblick erkannten trotz vieler Spreu den eigentlichen Weizen, und prophezeiten mir, daß bei anhaltenden u. ernsten Studien es sich lohnen würde mit dem mir unvertrauten Pfunde zu wuchern, – ja, ich kann es gestehen, es hat sich gelohnt, denn ich habe nach Aussage anderer berühmter Autoritäten ganz immense Fortschritte gemacht, und was für mich die Hauptsache ist, ich bin innerlich mit mir zufrieden! (Letzteres soll aber durchaus nicht sagen daß ich ein Gegner des Galileischen «Epur si muove» bin; denn Stillstand ist mir das schrecklichste der Greuel!)

Ein glücklicher Zufall fügte es daß ich zu Kiel nach meiner Vaterstadt Berlin kam und mag man über diesen hochverdienten Mann denken, wie man will, das hat ihm noch keiner abgestritten und die Cohorten seiner Jünger beweisen es täglich mehr u. mehr: er ist ein einziger Lehrmeister. Wer bei Kiel nichts lernt, der lernt auch sein Lebtag nichts.

Ich machte also den strengsten Cursus bei ihm durch, und hatte es meinem riesenhaften Fleiße zu verdanken, daß ich in diesem verhältnißmäßig kurzen Zeitraum von 2 1/2 Jahr so ziemlich alles bei ihm durchmachte was ein Kunstjünger nöthig hat um mit gutem Gewissen in die Sphäre des öffentlichen Lebens mit gutem Gewissen einzutreten. Außer den musikalischen [...]übungen des einfachen, doppelten u. mehrfachen Contrapunkts, Canon, Fuge, (bis zu 6 stimmigen doppelt u. Tripel) Variationen für Piano, Quartett schrieb ich 2 größere Claviersonaten, in welchen meine Individualität erst zum Durchbruch kam, ein großes Claviertrio (eben zum Versandt druckeshalber) eine große Ouvertüre und als Probestück zu meinem Abgangsdiplom (welches sehr gut ausgefallen ist) mußte ich ein vollständiges Miserere für Frauenchor, Soli u. Orchester schreiben, welch’ lezteres ich zu meinen besten Sachen zähle.

Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, wenn ich Ihnen Alles dies so genau detaillirt habe, ich hoffte daß auch Sie als eigentlicher Urheber meiner Fortschritte einiges Interesse daran haben würden und da ich jezt auf der Reise nach dem schönen Lande «wo im dunklen Laub die Goldorangen glüh’n» mein schönes, altes Wiesbaden das mich dem Leben wiedergegeben, wieder auf einige Tage aufgesucht habe, wäre es mir die größte Befriedigung u. Genugthuung Sie mit meinen Fortschritten bekannt zu machen, und ein unumwunde[ne]s, offenes Urtheil von Ihnen über meine Producte zu hören. – Daher würde ich Sie ebenso freundlich wie dringend bitten mir gef. eine Zeit zu bestimmen in welcher ich die große Ehre haben kann Sie besuchen zu dürfen. (vielleicht Sonntag oder morgen?)

Zum näheren Verständniß meiner Reise nach Italien theile ich Ihnen mit, daß Giulio Ricordi, mit dem ich schon mehrere Jahre als Mitarbeiter u. Correspondent der mailaender «Gazzetta musicale» in Verbindung stehe, und dessen Freundschaft ich mir in hohem Grade erworben, mir eine Correpetitorstelle am Vermetheater in Mailand reservirt hat, ich dieselbe jedoch nur als augenblicklichen Nothnagel benutze, da es meine Absicht ist in Italien als dramatischer Componist mein Glück zu versuchen, und wenn ich mir erst die gehörige Routine erworben, wieder nach Deutschland zurückzukehren.

Sie sind hoffentlich so freundlich und lassen mich durch 3 Worte wissen, wann ich Sie besuchen darf, ich werde mir dann erlauben Ihnen einige meiner Manuscripte u. Drucksachen vorzulegen.

Indem ich nochmals der Störung halber gütigst um Verzeihung bitte

bleibe hochachtungsvoll

als Ihr Ihnen ewig dankbarer

Martin Roeder

Wiesbaden 5/9. 73.

z. Z. Rheinstraße 23 II.


Zitiervorschlag: Roeder, Martin: Brief an Joachim Raff (5. 9. 1873); https://portal.raff-archiv.ch/A01126, abgerufen am 16. 9 2024.